"Alarm, Genosse!"In der Nacht zum 13. August glühen die Telefondrähte, und Mitglieder der Kampfgruppen klopfen an Fenster und Türen. In vielen Wohnungen schrillen die Klingeln. Abschnittsbevollmächtigte der VP laufen von Tür zu Tür. Kradfahrer sind unterwegs und holen Kommandeure und Zugführer der Kampfgruppen von ihren Gartengrundstücken. Immer wieder ertönt der Ruf: "Alarm, Genosse, sofort zum Stellplatz!"

Wer schaut schon zur Uhr, wenn er nachts dringend in den Betrieb gerufen wird? Günter Prüwer, Kommandeur der Kampfgruppen-Hundertschaft der Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerke (BMHW) tut es nicht. Er setzt seinen Ehrgeiz darein, so schnell wie möglich im Betrieb zu sein. Auch der Betriebsdirektor, Walter Landgraf, und andere leitende Mitarbeiter haben denselben Wunsch. So treffen sie etwa gleichzeitig ein.

Der Parteisekretär hat sie herbeigerufen. Er gibt kurz die Information der Kreisleitung der SED wieder und legt die nächsten Aufgaben fest. "Du, Genosse Prüwer, alarmierst die Kampfgruppe! Der Werkschutz unterstützt dich dabei. Aus Vertretern der Zentralen Parteileitung der SED, der Betriebsleitung, der Betriebsgewerkschaftsleitung und der FDJ bilden wir einen Stab; er hat zu sichern, daß die Produktion reibungslos läuft. Wir müssen davon ausgehen, daß die Kämpfer dem Betrieb einige Zeit nicht zur Verfügung stehen werden.

Prüwer setzt sich mit dem Bataillonsstab in Verbindung und ruft anschließend - gemeinsam mit dem Betriebsschutz - Mitglieder der Hundertschaft an. Die Angerufenen eilen weiter und wecken ihrerseits Kampfgruppenmitglieder. Besitzt einer ein Auto, wie Hans Sadowski, oder ein Motorrad, wie Heinz Gorczynski, so nimmt er Kämpfer mit zum Betrieb. Die Ankommenden werden zu einem Zug zusammengestellt. Ein erfahrener Genosse wird zum zeitweiligen Zugführer und andere werden zu Gruppenführern ernannt. Die Kämpfer erhalten ihre Ausrüstung nebst Verpflegung. Dann bringen LKWs des betriebseigenen Fuhrparks und vom VEB Güterkraftverkehr sie zum Treptower Einsatzstab. Etwa eine Stunde nach der Alarmierung des Kommandeurs besetzt der erste Zug der Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerke den ihm zugewiesenen Grenzabschnitt.

Werner Weiße, Innendienstleiter der Hundertschaft, gehört zu den ersten, die in den Betrieb kommen. Er übernimmt die Leitung der gesamten Versorgung und organisiert den Abtransport der Kämpfer. Gleich nach ihm treffen andere Kollegen in der BMHW ein. Else Schubert übernimmt sofort den Kantinenbetrieb und sorgt für heiße Getränke, Bier, belegte Brote und Bockwurst. Franz Theissen erscheint von sich aus und bringt Frau und Sohn mit. Sie geben Frühstücksbeutel aus und helfen bei der Vorbereitung eines warmen Mittagessens. Unter den ersten, die sich von der Belegschaft zur Unterstützung der Kampfgruppe zur Verfügung stellen, ist der Kollege Aue vom Fuhrpark. Die beiden Kameraden der GST Siegfried Reinke und Helmut Kraft sind ständig als Melder unterwegs. Bruno Wegener organisiert schon in den frühen Morgenstunden den Schutz der neuralgischen Punkte seines Betriebes.

Zwischen 6 und 7 Uhr verläßt der zweite Zug die BMHW. Er setzt sich vor allem aus Arbeitern zusammen, die aus der Nachtschicht kommen oder zur Frühschicht gehen. Ihre Plätze an den Schmelzöfen und Maschinen nehmen Kollegen ein, die gerufen worden sind oder auf Grund der Meldungen von Presse und Rundfunk von sich aus in den Betrieb geeilt sind. Umbesetzungen in der Kampfgruppe werden vorgenommen. Parteisekretär, Werkleiter, einige Ingenieure und Facharbeiter müssen aus der Kampfgruppe herausgenommen werden, weil sie zur Aufrechterhaltung der Produktion im Betrieb gebraucht werden.


Die Kampfgruppe der BVG vor dem Abmarsch zum Einsatzort


Der Student Kurt Menz, der im August sein Praktikum in den BMHW durchführt, reiht sich als Gruppenführer in den zweiten Zug ein. Als Frühaufsteher hat er von den Sicherungsmaßnahmen erfahren und ist zum Betrieb geeilt. Er erinnert sich: "Meine Einkleidung verlief ziemlich kompliziert, da ich keine Sachen im Betrieb besaß. Vor allem war es schwierig mit den Stiefeln. Nach mehreren Proben behielt ich ein Paar, aber auch das paßte nur bedingt. Ich mußte das Paar zwei Tage und Nächte ohne Unterbrechung tragen, weil ich sonst nicht wieder hineingekommen wäre. Erst nach zwei Tagen trennten wir uns gewaltsam - meine zu kleinen Stiefel und ich."

Der dritte Zug geht zwischen 11 und 12 Uhr an die Grenze. Zu diesem Zug gehören Kämpfer, die, wie Jupp Giza, als Agitatoren eingesetzt und mit anderen Aufgaben der Kreisleitung der SED betraut worden sind, sowie Kämpfer, wie Joachim Kynaß, die zunächst noch im Betrieb Aufgaben lösen mußten. Parallel zur Hundertschaft wird der schwere Zug alarmiert. Er gehört der Bezirksreserve an.

Bis zum Eintreffen von Betonpfählen und Stacheldrahtrollen am Vormittag sichern die Kämpfer ein unübersichtliches Laubengelände und den Teltowkanal mit schußbereiten MPi und einem schweren MG. Dann aber beginnen die einen, die Grenze pioniermäßig zu befestigen, während die anderen den Schutz der Kameraden übernehmen. Eintreffende Volkspolizei-Bereitschaften helfen bei der Verdrahtung. Bis zum Abend wird die Arbeit fortgesetzt, nur von Essenpausen unterbrochen. Während in der Nacht ein Teil der Kämpfer auf den LKWs schläft, bewacht der andere die Grenze. Für Verpflegung, Schlafgelegenheiten und selbst für elektrische Beleuchtung sorgen die Kollegen des Betriebes.

Nicht immer und nicht überall erfolgt der Einsatz so schnell und gut organisiert. Aus mannigfaltigen Gründen treffen Kämpfer erst im Laufe des Vormittags ein. Eine Meine Gruppe sammelt sich in den BMHW. Zu ihr gehört Jugendfreund Klaus Abraham. Die Kreisleitung der FDJ Berlin-Treptow hatte ihn in den frühen Morgenstunden zu sich gerufen, damit er an Beratungen teilnimmt. Danach sendet sie ihn und andere Jugendliche in ihre Betriebe; dort sollen sie helfen, die Reihen der Kämpfer zu stärken. Jetzt wartet er. Da kommt eine dringende Anforderung. Eingekleidet, aber noch unbewaffnet fahren die Kämpfer zum Heidekampgraben. "Seit den Nachtstunden", so Klaus Abraham, "befand sich hier Bereitschaftspolizei im Einsatz. Während sie die Grenze militärisch sicherte und uns bei der Verdrahtung half, errichteten wir die Grenzbefestigungen. Wir hatten am 13. August keinerlei Kontakt zum Betrieb und erhielten auch noch keine Gemeinschaftsverpflegung. Von den Bewohnern des Laubengeländes erhielten wir etwas zu essen und zu trinken. Bis nach Mitternacht blieben wir ununterbrochen im Einsatz. Den Rest der Nacht verbrachten wir auf bloßen Tischen und Bänken in der SED-Kreisleitung. Am 14. August wurden wir in unsere Hundertschaft eingegliedert und erhielten unsere Waffen."

Rückblickend erinnert sich Günter Prüwer: "Die Grundlage für die Erfolge unserer Hundertschaft bei ihrem Einsatz war das einheitliche Handeln von Kampfgruppe, Betriebsparteiorganisation der SED und der Belegschaft. Vertreter der Gewerkschaftsgruppen besuchten die Hundertschaft und gaben die Verpflichtung ab, die durch den Einsatz der Kämpfer ausgefallene Arbeitszeit durch zusätzliche Leistungen in der Produktion wettzumachen. Die gesamte Hundertschaft wußte, daß auf die Kollegen im Betrieb unbedingt Verlaß war und zeichnete sich deshalb durch eine besonders hohe Kampfmoral und militärische Disziplin aus. Während und unmittelbar nach dem Einsatz zum Schutz des Friedens baten 9 Kämpfer um Aufnahme in die Reihen der SED. 32 Kämpfer erhielten Auszeichnungen für ihren Einsatz an der Grenze." Die Hundertschaft der BHMW erhält als Auszeichnung für ihre Leistungen am 13. August und in den folgenden Tagen die Bataillonsfahne. Und Kurt Menz darf zum Kampfgruppenappell am 23. August die rote Fahne tragen, die über den Arbeitern des Weddings am 1. Mai 1929 wehte.

So wie in den Berliner Metallhütten und Halbzeugwerken verläuft die Alarmierung tausender Kämpfer in der Hauptstadt. Allen ist gemein:

Die Kämpfer haben eine hohe Einsatzbereitschaft. Sie dokumentiert sich auch darin, daß etwa 20 Prozent von ihnen ohne Benachrichtigung zur Einheit stoßen. Und doch unterscheidet sich jeder Einsatz. Das 7. Bataillon bildet zum Beispiel in den ersten drei Tagen eine Bezirksreserve. Andere Einheiten sichern Straßen der Innenstadt; sie sind mit den Provokateuren direkt konfrontiert.


Das Zusammenwirken der Sowjet- armee und der bewaffneten Kräften der DDR schafft günstige Bedingun- gen für den Beginn und den weiteren Verlauf der Grenzsicherungs- maßnahmen.


klick zurück weiter klick

Startseite