Als der Innensenator von Westberlin, Joachim Lipschitz, am Morgen des 14. August seine Post durchsieht, findet er einen Bericht des Geheimdienstes vom Freitag, dem 11. August: Für das Wochenende vom 12. und 13. August sind keine dramatischen Ereignisse zu erwarten. Entsprechend solchen Vorhersagen der mehr als 80 Geheimdienststellen in Westberlin werden alle verantwortlichen Politiker der BRD und Westberlins in den Morgenstunden des 13. August mit der Nachricht aus ihrer Traumwelt gerissen: Bewaffnete Einheiten der DDR sichern die Grenze zu Westberlin!
Am 13. August um 3 Uhr 30 schläft Willy Brandt, Regierender Bürgermeister von Westberlin, in seinem Schlafwagen, der an dem fahrplanmäßigen Schnellzug Nürnberg-Kiel hängt. Durch Kanzleichef Heinrich Albertz telegrafisch geweckt, verläßt Brandt um 5 Uhr in Hannover den Zug und fliegt mit der nächsten Maschine nach Westberlin.
Um 9 Uhr treffen sich die drei westlichen Stadtkommandanten. Sie sind sich einig: Hinter der DDR steht die geschlossene Macht der Staaten des Warschauer Vertrages. Sie sehen keine Möglichkeit für ein bewaffnetes Vorgehen gegen die Grenzsicherungsanlagen, die in völliger Übereinstimmung mit dem Völkerrecht errichtet werden und weder die Interessen noch das Prestige der Westmächte berühren. Angesichts dieser Lage lauten die Anweisungen der übergeordneten Dienststellen: Abwarten! Nichts überstürzen! Zurückhaltung! Der schwarze Hefter, den Kennedy während der letzten Wochen ständig bei sich getragen hat, enthält zahlreiche Pläne, die im Falle einer Krise um Westberlin eine abgestufte Reaktion der NATO vorsehen. Zu einer Westberlinkrise kommt es jedoch nicht, weil die DDR den Krisenherd eingrenzt, noch bevor der Imperialismus der BRD das Feuer voll entfachen kann. Und für diesen Fall haben die Planungsspezialisten der NATO keine Variante ausgearbeitet.
![]() |
BRD-Minister Ernst Lemmer wird am 28. Oktober 1961 von amerikanischer Militär- polizei daran gehindert, die Spannungen am Grenzüber- gang Friedrichstraße zu verschärfen. |
Brandt, sein Stellvertreter, Franz Amrehn, und Albertz werden zu 11 Uhr in die Stadtkommandantur gebeten. Die Kommandanten ordnen an: Die Westberliner Polizei hat an der Grenze für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Damit ist die Sitzung geschlossen.
Bundeskanzler Adenauer, von seinem Staatssekretär, Hans-Maria Globke, am Sonntag früh aus dem Schlaf gerissen, läßt sich telefonisch über die Ereignisse der Nacht berichten. Er empfängt an diesem Tag nur drei Personen: einen Reporter des RIAS, dem er einige nichtssagende Sätze ins Mikrophon spricht, den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU im Bundestag, Heinrich Krone, und Globke. Selbst das Fernsehen, sonst ein gern begrüßter Gast, muß seine bereits ausgepackten Geräte wieder verstauen und unverrichteterdinge abrücken.
Der sonst so auf Publicity bedachte Kanzler findet keine Worte über das Vorgehen der DDR, die einen Strich mitten durch seine Pläne zieht.
Da vom Bundeskanzler nicht zur Beratung der nächsten Schritte herbeigerufen, entfalten der Außenminister, Heinrich v. Brentano, und andere hohe Beamte der BRD eine rege Geschäftigkeit. Sie versuchen, die Staaten der NATO für Maßnahmen gegen die DDR und die anderen Staaten des Warschauer Vertrages zu gewinnen, um die Grenzsicherung rückgängig zu machen. Dabei schrecken sie nicht vor Pressionen gegen die eigenen Verbündeten zurück.
Am Abend des 14. August treten Adenauer und v. Brentano vor die am Vortag zurückgewiesenen Fernsehkameras, haben aber den Bundesbürgern nichts zu sagen. Die "Frankfurter Rundschau" kommentiert die Fernsehshow: "Die beiden Männer sahen nicht so strahlend aus wie an den Anschlagsäulen - ihr Gesicht war grau und ihre Haltung gebrochen... Was sie sagten, war ein Beweis für das Fiasko ihrer Politik."
Der Botschafter der USA in der BRD, Walter C. Dowling, beobachtet am 13. August ein Baseballspiel. Kuriere bringen ihm die Meldungen seiner Zweigstelle in Westberlin auf den Sportplatz. Ruhig liest der Botschafter die Depeschen, bevor er sie zur Übermittlung nach Washington freigibt. Die Beamten des Außenministeriums der USA haben an diesem Sonntag größtenteils die Hauptstadt Washington verlassen. Erst gegen 17 Uhr mitteleuropäischer Zeit ist ein zusammenhängender Bericht für den Außenminister, Dean Rusk, formuliert. Danach verständigt sich dieser mit Kennedy. Der Präsident, der zu dieser Zeit eine Fahrt mit seiner Jacht vorbereitet, sieht keinen Grund, den Ausflug zu verschieben.
![]() |
General Lucius D. Clay, von Präsident Kennedy nach Berlin (West) entsandt, unternimmt große Anstrengungen, die Mauer zu bewältigen. |
An diesem 13. August erholt sich Frankreichs Staatspyäsident, Charles de Gaulle, ungestört auf seinem Landsitz. Der britische Premierminister, Harold Macmillan, und sein Außenminister, Lord Alec Douglas-Home, bereiten ihre Reise zur Moorhuhnjagd nach Schottland vor. Das britische Massenblatt "Daily Express" schreibt am 14. August: "Kühlbleiben war die Anweisung, die gestern vom Foreign Office (Außenministerium - d. Verf.) an die britischen Gesandten in der Welt erging... In Whitehall (Regierungssitz - d. Verf.) wächst die Zuversicht, daß große Reservestreitkräfte, die jetzt in England zusammengestellt werden, schließlich doch nicht nach Deutschland entsandt werden müssen." Während führende Politiker der drei Westmächte zu Ruhe und Besonnenheit raten, drängen Publizisten, Militärs und Politiker der BRD auf Maßnahmen zur gewaltsamen Öffnung der Grenze der DDR. Sie werden durch aggressive Kräfte -vor allem der USA - unterstützt. General Heusinger und ihm befreundete hohe Offiziere des Pentagon beispielsweise drängen die amerikanische Regierung, die Grenze zwischen Westberlin und der Hauptstadt der DDR einzuboxen. Axel Cäsar Springer, Herrscher über den größten Teil der Presse der BRD und Westberlins, erklärt gegenüber Edward Murrow, Chef der U. S. Information Agency:
"Wenn die USA nicht eingreifen oder wirksame Gegenmaßnahmen unternehmen, werde ich mein ganzes Vermögen und alle Presseorgane einsetzen, um eine nationalistische Stimmung in Westdeutschland zu entfachen."
Der 13. August gehört zu den herausragenden Daten der neueren Geschichte. Gestützt auf die Sowjetunion und die anderen Staaten des Warschauer Vertrages, brachten die Arbeiterklasse der DDR und ihre bewaffneten Organe die Pläne der aggressivsten Kräfte, die der damalige Verteidigungsminister der BRD, Franz-Josef Strauß, repräsentierte, zum Scheitern. Die Welt wurde vor einem Atomkrieg bewahrt und die Voraussetzung für die Entspannung in Europa bedeutend verbessert.
Das Kräfteverhältnis zwischen dem sozialistischen und imperialistischen Weltsystem erlaubte den Regierungen der NATO-Staaten nicht, eine militärische Beseitigung der Grenzsicherungsanlagen der DDR ernsthaft zu erwägen. In den herrschenden Kreisen Westberlins, der BRD und der USA gab es mächtige Kräfte, die nicht bereit waren, ihre Politik der gewaltsamen Beseitigung der DDR aufzugeben.