Ein besonderes Kapitel zur Vorbereitung eines "begrenzten" Krieges
Fluchten, Menschenhandel und Kopfgeldjäger

Gerade die Ereignisse, die mit diesen Schlagworten hier charakterisiert sind, werden in der Regel, auch wenn es um den 13. August 1961 geht, sehr einseitig und natürlich aus antisozialistischer und antikommunistischer Sicht dargestellt.

Von den Zeitzeugen der damaligen Entwicklung (zu denen auch wir Autoren gehören) wird nicht bestritten, dass die "Fluchten" aus der DDR auch eine Seite der Gründe für die Sicherung der Staatsgrenze der DDR war. Das natürlich deshalb, weil das zur Schwächung der DDR führte und dieses Phänomen ein wesentlicher Teil subversiver Strategie der imperialistischen Kräfte gegen die DDR war.

Natürlich gab es eine Reihe innerer Ursachen für den Drang einer nicht geringen Anzahl von Bürgern der DDR in den Westen zu gelangen. Diese inneren Ursachen, die sich natürlich im Laufe der Jahre bis zur Niederlage der DDR wandelten, wurden erkannt.

Falltür inmitten des kommunistischen Machtbereichs

Es wurde jedoch, vor allem in den späteren 60er und 70er Jahren nur ungenügend darauf mit politischen Mitteln reagiert. Grundsätzlich kann zu diesem Phänomen zunächst einmal festgestellt werden, dass die "Fluchten" aus der DDR durch die BRD zum Kampf gegen die DDR instrumentalisiert, staatlich geduldet, gefördert, initiiert und letztlich sogar organisiert wurden. Dabei spielte Westberlin eine dominierende Rolle, das so tief im "Fleisch der DDR" (E. Reuter) saß, dass dieser unter Besatzungsrecht stehende Stadtteil Berlins zur Schleuse für alle jene Bürger der DDR wurde, die "ihr Heil" in der Bundesrepublik suchten.

Es war - wie die US-Zeitschrift "Time" am 29. 5. 1959 feststellte, "eine Art Falltür inmitten des kommunistischen Machtbereichs".

Das Ausmaß dieser Ost-Westwanderung - der Hauptstrom floss über Westberlin - wird durch folgende Zahlen deutlich. Danach gingen, nicht nachprüfbaren Registrierungen bundesdeutscher Behörden zu Folge, zum Beispiel 1949 = 129 245, 1953 = 331 390, 1956 = 279 189, 1960 = 199 188 und 1961 (bis 12. August) 155 402 Bürger der DDR in die BRD und nach Westberlin.

Durch diesen Aderlass entwickelte sich für die DDR in dieser Phase des Kalten Krieges, angesichts der immer gefährlicher werdenden internationalen Spannungen, besonders der herannahenden, von Geheimdiensten prognostizierte "Berlin-Krise" und des aggressiven Säbelrasseln der Herrschenden der Bundesrepublik, eine existenzbedrohende Situation, die außerordentliche Maßnahmen erforderte.

Was war die DDR wert?

Wenn man die Frage beantworten will, warum diese Ost-West-Wanderung solche Dimensionen zum Schaden der DDR angenommen hatte, sollte man jene kurzgefassten Betrachtungen einführen, die Siegfried Wenzel (ehemaliger Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission der DDR) zum Vergleich der ökonomischen Entwicklungen beider deutscher Staaten, in seinem Buch "Was war die DDR wert" anstellte.

Das führte natürlich zu jenem Gefälle, das die Ost-West-Wanderung wesentlich beeinflusste.

Die Notaufnahmegesetze...

Wenn wir eingangs von der Instrumentalisierung der Fluchten für den Kampf gegen die DDR gesprochen haben, dann wird das durch folgende Faktoren deutlich.

Die Bundesrepublik beharrte seit ihrer Gründung auf den Alleinvertretungsanspruch und schuf sich - ausgehend davon - mit dem Artikel 116 eine Staatsbürgerschaftsregelung im Grundgesetz, die es ermöglichte, alle Bürger der DDR - deren Staatsangehörigkeit durch sie missachtet wurde - als Bürger der Bundesrepublik zu behandeln. Das wird gerade im Zusammenhang mit der Ost-West-Wanderung, den Fluchten aus der DDR in die BRD sehr deutlich.

Auf der Grundlage dieser im Grundgesetz gesicherten Position schuf sich die Bundesrepublik ein System sogenannter Notaufnahmegesetze ausschließlich für die Bürger der DDR Diese bundesdeutschen Rechtsvorschriften ermöglichten, Bürger der DDR, die in den Westen wollten, ohne ein wesentlich komplizierteres Asylverfahren für Ausländer - oder Bürger anderer Staaten - in der Bundesrepublik aufgenommen zu werden. Sicher werden sich viele Menschen daran erinnern, dass die Aufnahme der DDR-Bürger in den sogenannten Notaufnahmelagern in Gießen oder in Westberlin-Marienfelde erfolgte. Dort waren Dienststellen der alliierten und bundesdeutschen Geheimdienste und anderen Feindorganisationen etabliert.

Die Aufgabe der Geheimdienste - sie nannten sich in den Flüchtlingslagern Dienststellen des Befragungswesen - bestand darin, die ankommenden DDR-Bürger zu befragen, ihnen ein ganzes Spektrum von Informationen über die DDR zu entlocken, wozu sie in aller Regel um ihrer persönlichen Vorteile wegen auch bereit waren. Dort wurde zielgerichtet nach Personen gefragt, die eventuell geheimdienstlichen Kontakten nicht abgeneigt wären.

Ein Schwerpunkt war immer die Erkundung und Charakterisierung von Personen, die auch bereit waren, die DDR zu verlassen. Solche wurden dann oftmals durch die befragten DDR-Bürger selbst angesprochen und zur "Flucht" nach Westberlin oder der BRD ermuntert. Die ankommenden "Flüchtlinge" aus der DDR erhielten im Ergebnis dieser Notaufnahmeverfahren z. T. immense materielle Vergünstigungen und finanzielle Stützen, um sich eine neue Existenz schaffen zu können.

... und Notaufnahmeverfahren

Die ohnehin schon bestehende Sogwirkung auf DDR-Bürger infolge des - im Vergleich zu Ausländern - sehr unkomplizierte "Notaufnahmeverfahren" wurde durch großzügige Flüchtlingsbeihilfen, Lastenausgleiche für in der DDR zurückgelassene Vermögenswerte (meist Immobilien) noch attraktiver gemacht. All das musste anziehend, ja fördernd wirken auf alle jene DDR-Bürger, die in den Westen wollten um besser zu leben.

Wenn von Instrumentalisierung der "Fluchten" gerade in diesem Zusammenhang die Rede war, geschah das völlig zurecht. Die Behörden der Bundesrepublik in Westberlin versteckten diese vom Grundgesetz getragene großangelegte Abwerbung immer dahinter, dass sie mit ihren "Alleinvertretungsanspruch" für alle Deutschen handelte, nur eben eine Staatsbürgerschaft - die deutsche, die es eigentlich seit 1949 gar nicht mehr gab - kannte und das Verfassungsprinzip der Einheit Deutschlands durch Anschluss der DDR an die BRD immer beibehielt.

Große und kleine Wirtschaftsunternehmen suchten über "Flüchtlinge" Kontakte zu Arbeitskräften, natürlich möglichst zu Spezialisten, die bereit waren, in den Westen zu gehen. An verschiedenen Universitäten der DDR, nicht nur in Berlin, wurde nach qualifizierten, wissenschaftlich gebildeten Kadern gesucht, die für einen Schritt in den Westen nach Abschluss ihrer wissenschaftlichen Ausbildung bereit waren. Mit ihnen wurden sogar in der Phase ihres Studiums Verträge abgeschlossen.

Was Spione offenbarten

Auch die in der DDR tätigen Spione erhielten Weisungen ihrer Auftraggeber, nach Spezialisten in den verschiedensten Bereichen, wie Forschung und Entwicklung, Produktion, Gesundheitswesen usw. Ausschau zu halten. Solche Personen wurden zunächst auf ihre Bereitschaft einer "Flucht" getestet um danach gezielt angesprochen zu werden und bei Zusicherung von gut bezahlten Arbeitsplätzen, Wohnung etc. die DDR zu verlassen.

In einem Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR wurde z.B. durch Einlassungen angeklagter Spione und Agenten offenbart:

Dieser Prozess enthüllte einen Komplex von Maßnahmen zur Abwerbung von DDR-Bürgern und die Interessen der Auftraggeber.

Die Medien, vor allem die in Westberlin angesiedelten Rundfunkstationen wie RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) und SFB (Sender Freies Berlin) natürlich auch das sich entwickelnde Fernsehen wirkten pausenlos auf die Bevölkerung der DDR ein.

Das war ein Teil jener politisch-ideologischer Diversion, der die Menschen in der DDR von ihrem Engagement für ihren ersten Arbeiter- und Bauernstaat abhalten oder abbringen sollte dieses jahrelange politisch-ideologische Trommelfeuer auf die Hirne und Herzen der Menschen, das zielgerichtete, geschickte Anknüpfen an viele persönliche Interessen und Vorstellungen, die Kontraste zu den objektiven Defiziten in der DDR, über ein recht unkompliziertes Leben außerhalb der DDR, begünstigte die Ost-West-Wanderung erheblich. Das Thema Verlassen der DDR, Ankommen in Westberlin und der BRD, blumige Schilderungen der Arbeitskräftesituation, der Möglichkeit hochqualifizierter Beschäftigung in westlichen Unternehmen, Luxus und Wohlstand spielten in allen Sendungen eine große Rolle. Das wurde gewissermaßen frei Haus in jede Stube des Ostens geliefert.

Selbstverständlich spielten Tausende persönliche Verbindungen und Begegnungen zwischen Bewohnern Westberlins und der Hauptstadt der DDR eine wesentliche Rolle.

63 000 Grenzgänger in Berlin

Nicht wenige Menschen wurden infolge persönlicher Beeinflussung dazu gebracht ihren Arbeitsplatz und ihre angestammte Heimat zu verlassen. Es wird völlig zurecht festgestellt, dass die Gefahr bestand, die DDR erleide jenen Kollaps, der von Politikern und imperialistischen Geheimdiensten als wesentlichste Seite der Destabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse angedacht war, wozu sicher auch die bereits angeführten anderen Störfaktoren des internationalen Handels beitragen sollten.

Ein solcher enormer Verlust von Human-Kapital musste jeden Staat erschüttern. Ein Experte bezifferte die Verluste für die DDR in der Zeit von 1950 bis 1961 auf jährlich 144.000 bis 330.000 Menschen, darunter 50 Prozent Jugendliche bis 25 Jahre.

Wirtschaftswissenschaftler der BRD schätzten ein, dass die BRD diesen "Zufluss" von Human-Kapital in der Größenordnung bis 2 Millionen Arbeitskräfte aus der DDR als nicht hoch genug zu wertenden Aktivposten erhielt.

Die enormen Verluste der DDR, aus Reparationsleistungen und Abwanderungen wurden bis 1961 auf ca. 100 Millionen DM berechnet.

Wenn schon diese Übersicht fragmentarisch angeführt wird, dann darf nicht unterschlagen werden, dass es ca. 63 000 "Grenzgänger" in Berlin gab, die einen jährlichen Kostenaufwand, gemessen am Ausfall von Produktionswerten, von jährlich 2,5 Milliarden verursachten. Grenzgänger waren Einwohner der Hauptstadt der DDR und des Berliner Umlandes, die dort sesshaft waren und in Westberlin einen festen Arbeitsplatz hatten. Vor allem für jene, die die Situation von damals nicht kannten soll erklärt werden, sie verdienten in Westberlin DM, also Westgeld, tauschten dieses zu den unterschiedlichsten Schwindelkursen bis 1 : 10 in Mark der DDR ein, und lebten dafür im Osten der Stadt oder in deren Umland. Dabei nahmen sie alle Errungenschaften der DDR, insbesondere die Sozialleistungen inklusive der Leistungen des Gesundheitswesend voll in Anspruch Hinzu kamen noch ca. 40 000 Gelegenheitsarbeiter, die im Osten wohnhaft waren aber in Westberlin arbeiteten. Sie nahmen prinzipiell die gleichen "Vergünstigungen" in Anspruch wie die "Grenzgänger".

Im Westen am Konsumrausch teilhaben

Es ist sehr leicht vorstellbar, welches soziale und gesellschaftliche Gefälle sich zwischen diesen Gruppen von Menschen und jenen, die in der DDR lebten und arbeiteten, über keine Westmark verfügten, entwickelte und das in einer Stadt, wie es die Hauptstadt der DDR war. Es wird für alle sehr augenfällig, dass Westberlin - dieser "Pfahl im Fleisch der DDR", wie es E. Reuter bezeichnet hatte - auch auf diesem Gebiet eine klaffende Wunde verursachte, an der die DDR auszubluten drohte.

Wenn in einem für US-amerikanische Politiker bestimmten Papier der CIA als Aufgabe fixiert wurde, eine verstärkte Instabilität in Ostdeutschland herbeizuführen, kann man ermessen, dass diese Situation durch den Abgang von Menschen aus der DDR, vor allem solcher, die in Wissenschaft, Technik, Produktion und Verwaltung gewissermaßen Teil eines gesellschaftlichen Getriebes waren, erreicht werden sollte. Eine solche Instabilität wäre geradezu einladend gewesen, militärisch in die DDR einzudringen und ein Okkupationsregime zur "Stabilisierung" ganz anderer Art zu erreichen.

Bei der Beurteilung der Ereignisse um den 13. August 1961 wird immer von Fluchten aus der DDR gesprochen. Das zeigt sich in Begriffen wie Fluchtwelle, Massenfluchten usw.

Es wurde schon zur damaligen Zeit nicht bestritten, dass es Massen von DDR-Bürgern waren, die ihrem Staat den Rücken kehrten. Diese hohe Zahl nun jedoch pauschal als Flüchtlinge zu bezeichnen macht eigentlich nur deutlich, dass zurecht von einer Instrumentalisierung des Problems gesprochen wurde und dieser Kampfbegriff nur gewählt wurde und noch heute wird, um die DDR zu diskriminieren.

Der Öffentlichkeit, vor allem jenen, die die Gnade der späteren Geburt genießen, wird suggeriert, das Volk sei vor den Repressionen der Kommunisten davongelaufen.

Manche "Geschichtsaufarbeiter" qualifizieren die Ost-West-Wanderung, den Menschenhandel und Fluchten als Widerstand gegen das SED-Regime. Ein recht schwachsinniges und bösartiges Unterfangen.

Die Masse der DDR-Bürger wollte, ob abgeworben, mit Kopfgeldern gelockt oder dem allgemeinen Sog erlegend, einfach im Westen besser leben, teilhaben am Konsumrausch, der bis in den Osten hineinblendete. Sicher gab es auch Menschen, die aus politischer Überzeugung die DDR verließen, weil sie in keinem sozialistischen Staat leben wollten.

Das waren aber im Verhältnis zur Masse nur Wenige. Dass durch "kräftige" Lippenbekenntnisse und bereitwillige Informationspreisgabe in den geheimdienstlichen Befragungsstellen sich viele zu politischen Gegnern hochstilisierten und so willkommene Statistiken "bereicherten" wird nicht übersehen.

Autorengruppe:
Manfred Dietze, Gerhard Neiber, Gerhard Niebling


Der gesamte Text mit den Beiträgen "Die Krise um Berlin bis zur letzten Konsequenz zuspitzen!", "Sabotage, Spionage, Diversion und Terror", "Menschenhandel und Kopfgeldjäger", "Der 13. August 1961" und "Notwendige Nachbetrachtung" ist erschienen in: UZ-Spezial "Der 13. August 1961", CommPress Verlag GmbH, Essen, 4,- DM plus Porto.


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